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Simulacrum

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Simulacrum X (Part II)

eine Stückentwicklung

 

In diesem interdisziplinären Projekt gehen Tanz, Sprache, Video, Licht und Live-Musik eine spannungsreiche Synthese ein, wobei die Simulationstheorie von Jean Baudrillard als thematische Basis fungiert. Dieser sieht im Simulacrum ein vom Signifikant gelöstes Teilchen, welches nurmehr eine Realität simuliert, mit seinem Ursprung aber nicht mehr identisch sein muss. Wenngleich Simulacren dadurch im Grunde inhaltslose Überbleibsel einer transformierten Realität sind, werden sie dennoch als reale Zeichen wahrgenommen und können demnach nicht mehr von einer „tatsächlichen Realität“ unterschieden werden.

 

SIMULACRUM X (PART II) - Text

 

Eva Scholz I

Das Glück sitzt auf der Spitze eines hohen Turmes, den du bauen mußt. Die Anleitung zum Bau des Turmes findest Du auf seiner Spitze.

Guten Abend, mein Name ist Eva Scholz. Ich bin die beliebte Fernsehschauspielerin.

Ich bin alleinerziehende Mutter eines Sohnes aus unglücklicher Ehe, mit dem ich immer irgendwie Schwierigkeiten habe. Ich hangele mich schon lange recht mittellos von Auftrag zu Auftrag und komme nicht so richtig vor. Dann endlich, mit Anfang vierzig, schlägt mich eine Redakteurin für die Hauptrolle einer Serie vor - „Die Schwarzwaldklinik“ ist die Verfilmung des Lebens der legendären Ärztin Frau Dr. Maria Brinkmann, die man auch die Chirurgin der Herzen nennt, weil sie medizinisches Knowhow mit einer Art seelsorgerischem Talent verbindet. Sie ist nicht nur erstklassige Chirurgin mit exzellenten Führungsqualitäten, sondern auch vorbildliche Mutter und begehrenswerte Ehefrau, sie ist fast eine Ikone. Ich weiß sofort, daß das die Rolle ist, auf die ich immer gewartet habe. Und was soll ich sagen? Mein Erfolg mit Frau Dr. Maria Brinkmann ist überwältigend. Ich bin so beliebt wie keine andere.

Hallo. Hallo. Ja, danke! Ach, Frau Becker, hat denn die Behandlung, die ich Ihnen empfohlen habe, angeschlagen? Ja? Sehen Sie. Grüßen Sie mir Ihren Mann!

Die Menschen lieben mich. Auch ich liebe mich. Auch ich liebe den leuchtenden Schmetterling, der endlich seinen Kokon verlassen hat.

12 Jahre lang arbeite ich in der Schwarzwaldklinik. Dann wird die Serie abgesetzt, weil ich mir keine Texte mehr merken kann. In meinem Kopf, da dröhnt und zirpt und ploppt es unaufhörlich.

Man sagt, ein Schmetterling in Strausberg Nord könne mit einem einzigen Flügelschlag in Ho-Chi-Minh-Stadt einen Tornado auslösen. Er könne durch einen kleinen Impuls ein ganzes System vollständig und unvorhersagbar verändern. Diese Theorie fasziniert mich.

 Praxis Frau Dr. Maria Brinkmann


P Guten Tag, mein Name ist Frau Dr. Maria Brinkmann. Ich begrüße Sie in meiner Praxis.

Sie sind zum ersten Mal bei mir?

R Nein.

P Bitte loggen Sie ich ein. Guten Tag, Herr Reniers. Nennen Sie mir bitte Ihr Anliegen!

R Frau Dr. Maria Brinkmann, ich bin deprimiert. Seit Tagen stagniert meine Selbstoptimierung. Wie kann ich schneller, produktiver und effizienter werden?

P Herr Reniers, jeder Mensch kann lernen, mehr Leistung zu bringen, sich von anderen abzusetzen und bewußter und glücklicher zu sein als die anderen.
Ich rate Ihnen: Wer das Beste aus sich machen und im Beruf die Früchte seiner Arbeit ernten will, dem liefert das Buch "Elitemensch: Wie werde ich besser als der Durchschnitt?" die besten Grundlagen.
Herr Reniers, Sie haben unbegrenzte Möglichkeiten. Sie sind frei.

R Ja! Ich habe unbegrenzte Möglichkeiten. Ich bin frei. Danke, Frau Dr. Maria Brinkmann.

P Der Nächste bitte!

P Sie sind zum ersten Mal bei mir?

B Ja.

P Bitte legen Sie Ihr Auge in den Kasten. Danke.
Guten Tag, Frau Jefferson, Sie sind verifiziert. Bitte nehmen Sie Ihr Auge zurück.

Bitte nennen Sie mir Ihr Anliegen!

B I know something I can ́t explain, but I feel it. I ́ve felt it my entire life that there ́s something wrong with the world. I don ́t know what it is. But it is there, like a splinter in my mind, driving me mad.

P Frau Jefferson, die Welt ist nicht geschaffen worden, damit man sie versteht. Sie schert sich nicht um Erkenntnis. Vielleicht ist sie sogar geschaffen worden, um nicht verstanden zu werden.

Ich rate Ihnen: Nehmen Sie eine blaue Pille jeden Tag vor dem Schlafengehen. Sie wachen auf und glauben, was immer Sie sehen.

Frau Jefferson, Sie haben unbegrenzte Möglichkeiten. Sie sind frei.
B Yeah! I have unlimited possibilities. I am free. Thank you, Miss Dr. Maria Brinkmann.


E Frau Dr. Maria Brinkmann, are you in fact real?

P Bitte loggen Sie ich ein.

E Who are you actually?
P Bitte loggen Sie sich ein.
E I ́ve never seen you in real life.
P Entschuldigung, ich kann Sie nicht verstehen. In dringenden Notfällen rate ich Ihnen:

Drehen Sie sich einmal um sich selbst und fangen Sie so viele Pokémons wie möglich. Ob das ein Ratzfratz, Taupsi oder Hornliu ist. Es ist eine gute Möglichkeit, auch mal an die frische Luft zu kommen.

Und denken Sie immer daran - Sie haben unbegrenzte Möglichkeiten. Sie sind frei.

Gute Besserung wünscht Ihnen Ihre Frau Dr. Maria Binkmann!

 Eva Scholz II

Guten Abend, meine Name ist Eva Scholz. Ich bin der beliebte Schmetterling, die geniale Baumeisterin auf flüssigem Grund. Mir ist es gelungen, ein großes Glück aufzubauen.

Ich sitze in meiner 5-Zimmerwohnung am Strausberger See und in meinem Kopf, da ploppt und zirpt und knirscht es. Es ist da etwas, das ich nicht erkennen kann. Es fühlt sich an, als sei mein Leben nicht echt gewesen, als hätte ich nicht wirklich gelebt.

Ich habe aber gelebt. Hier ist mein Körper.
Wenn mein Leben unecht gewesen wäre, wäre er nicht gealtert, hätte ich nicht geschlafen, gegessen, geliebt. Ich bin aber alt geworden und habe gegessen, geschlafen und geliebt.

Naja, habe ich wirklich geliebt, oder war es nur meine Vorstellung von Liebe?
Wenn ich in Wirklichkeit nicht geschlafen habe, was habe ich dann gemacht?

Und wenn dieser Körper nicht wahrhaftig ist, was fühle ich denn dann unter meiner Haut?

Kann man ein unechtes Leben überhaupt leben? Und was ist ein unechtes Leben?

Eins, das nicht stattfindet? Eins, das im Kokon steckenbleibt und als Potential ausgetrocknet am Boden zurückbleibt? Oder ein simuliertes Leben als Schmetterling, der später einen Tornado auslöst?

Wer sagt eigentlich, daß der Schmetterling das naturgegebene Ziel ist?

Was, wenn das eigentliche Leben der verschrumpelte Kokon ist?
Vielleicht findet das Leben nicht expansiv, sondern impansiv statt.
Vielleicht wollte ich selbst nie ein expansives Leben und habe es aber vorgestellt glücklich gelebt, weil es in mir einen Haufen an Bildern gibt, die mir sagen, daß Glück so aussieht.

Das Glück sitzt im Eingang eines hohen Turmes und schenkt dir einen Apfel.

Konzept & Choreographie: Ruben Reniers

Co-Choreographie & Tanz: Rebecca Jefferson & Ruben Reniers

Text & Performance: Paula Dombrowski

Live Musik & Komposition: Evelyn Saylor

Video & Foto: Philine Sollmann

Kostüm: Karin Rosemann

Dramaturgie: Nicole Kohlmann

Licht: Ruben Reniers & Yina Mora

Graphikdesign: Studio Workshop

Eine Ruben Reniers Produktion

Uraufführung 28. September 2016 Dock 11 Berlin

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